Wildnis – Forderung der NBS

Wildnis – eine Forderung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt – auch im Wald

Dr. Volker Grundmann / Hessenforst, Abteilung Waldinventur

Sehr geehrte Damen und Herren,

in meinem Vortrag geht es um Wildnis im Wald: Wer fordert Wildnis in Deutschland und was ist damit gemeint? Wie gehen wir mit der Forderung um? Haben wir überhaupt noch Wildnispotentiale? Eine schwierige Frage.

Die Forderung, Wildnisgebiete nach US-amerikanischem Vorbild auch in Europa unter Schutz zu stellen, bezog sich ursprünglich auf  die letzten, in Europa noch existierenden, weitgehend unberührten Landschaften, also großflächige Gebiete ohne direkten Einfluss des Menschen. Deren Erhaltung war das Ziel. Solche Gebiete gibt es – teils mit Einschränkung – nur noch in den peripheren Regionen Europas.

Die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ der Bundesregierung fordert im Abschnitt  B 1.3.1 „Unsere Vision für die Zukunft ist: In Deutschland gibt es wieder faszinierende Wildnisgebiete (z. B. in Nationalparken), in denen Entwicklungsprozesse natürlich und ungestört ablaufen. Unsere Ziele sind: Bis zum Jahr 2020 kann sich die Natur auf mindestens 2 % der Landesfläche Deutschlands wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln, beispielsweise in Bergbaufolgelandschaften, auf ehemaligen Truppenübungsplätzen, an Fließgewässern, an den Meeresküsten, in Mooren und im Hochgebirge.“ Von Wäldern ist hier nicht ausdrücklich die Rede.

Was ist Wildnis?

Eine griffige europäische Definition für „Wildnis“ ist mir nicht bekannt. Sie müsste Wildnis eindeutig von „Nichtwildnis“ abgrenzen. Stattdessen werden in Anlehnung an die Formulierungen der IUCN-WCPA zur Schutzkategorie „1 b Wildnis“ drei Stadien der Wildnis und zwei Größenklassen abgeleitet:

Qualitätsstadien der Wildnis

Stadium a)      unberührte Gebiete

Stadium b)      natürliche Gebiete ohne signifikante Landnutzung

Stadium c)      Wildniswiederherstellung, Zulassung natürlicher Prozesse

Wildnisgebiete der Stadien a) und b) gibt es im Wald Mitteleuropas seit Jahrhunderten oder länger nicht mehr. So bleibt lediglich ein Wildniskonzept des Stadiums c) für Deutschland übrig. Das Stadium c) ist aber identisch mit Zielen und Maßnahmen vieler anderer (Wald-) Naturschutzkategorien und -konzepte.

Fragen zur „Definition“ für die drei Stadien:

  • Wie unterscheidet man „unberührte“ von „natürlichen“ Gebieten
  • Was ist signifikante Landnutzung? (Frühere Wanderwaldweide, mittelalterliche Weide- oder Ackernutzung, überhöhte Wildbestände früher und heute, sporadische Zielstärkennutzung, Naturgemäße Waldwirtschaft, Stickstoffüberdüngung und Bodenversauerung aus Luftschadstoffen, stille bzw. intensive Erholungsnutzung, …)
  • Gibt es temporäre Wildnis, z. B. 20 – 30 Jahre spontaner Pionierwald auf großen Windwurfflächen?
  • Welche Rolle spielt im Wald die seit der Jungsteinzeit vom Menschen beeinflusste Baumartenpalette?
  • Ist Wildverbiss, der nachhaltig die Baumartenzusammensetzung beeinflusst, weniger signifikant als die Entnahme einzelner Bäume?
  • Führt das Fehlen großer „Beutegreifer“ zur Abstufung vom Stadium a) zum Stadium b)?
  • Darf bei Wildniswiederherstellung gejagt werden oder muss sogar gejagt werden?
  • Bewirkt der Hegebegriff des Jagdrechts (mit Fütterungsgebot in Notzeiten) einen „signifikanten“ Eingriff?

Flächengrößen der Gebiete für Wildnis beziehungsweise „Wildniswiederherstellung“

Zwei Flächenkategorien werden unterschieden:

a) großflächig Wildnisgebiet  (>1.000 bis zig-1.000 ha)

b) kleinflächig  „Wildgebiet“ (>10 ha).

Die Bezeichnung „Wildgebiet“ im Deutschen ist nicht sehr glücklich gewählt, weil missverständlich. Man erwartet nach diesem Begriff eher Schutzgebiete für einheimische Wildtierarten.

Gibt es nach den genannten Qualitäts- und Flächenkategorien überhaupt ein Potenzial für Wildnis im Wald des dicht besiedelten Deutschland? Was kann man noch oder nicht mehr finden, was wiederherstellen (Stadium c)?

Was kann der Wald in Deutschland trotzdem zur Förderung der Biodiversität beitragen?

In Deutschland geht es nicht um die Alternative: Primärwald oder Wirtschaftswald oder gar Plantage. Der Wald erbringt zahlreiche ökonomische und nichtökonomische Wirkungen und Leistungen. Die Ausweitung einer Waldfunktion geht immer zu Lasten einer oder mehrerer anderer Funktionen. Zur Verminderung dieser Konkurrenz und Harmonisierung könnte neben den Flächenkategorien der Wildnisgebiete und „Wildgebiete“ die Dimensionsskala nach unten durch die Kategorie „Wildniselemente“ erweitert werden. Diese sind bezogen auf die Erhaltung der Biodiversität ausgesprochen wirksam (vgl. hessische Naturwaldreservate-Forschung), sie sind eingebettet im naturnahen Wirtschaftswald zu finden und sie können dort in unterschiedlichem Umfang entwickelt und bereitgestellt werden (Rosinenbrotprinzip). Sie sollten zumindest aus Baumgruppen und kleineren Flächen bestehen, besondere Einzelbäume sind aber nicht ausgeschlossen. Zudem können Wildniselemente dieser Art die Anforderungen an ein Biotopverbundsystem im Wald erfüllen.

Hier liegt für Mitteleuropa das eigentliche Potential für den Naturschutz, für die Biodiversität.

Dem Bedürfnis der Menschen nach dem Erlebnis von Ursprünglichkeit kann auch das dienen, zumal jeder, der in den hiesigen „Wildnisgebieten“ der Nationalparke usw. vom vorgegebenen Pfad (strenges Wegegebot) abweicht, sofort auf den „Pfad der Tugend“ zurückgeschickt wird.

Die Größen-, die Verteilungs- und die Mengenfrage

Immer wieder wird die Frage nach der erforderlichen Mindestflächengröße von Einzelflächen und der erforderlichen Gesamtfläche gestellt. Eine stabile wissenschaftliche Herleitung gibt es wohl nicht, so dass politische Setzungen oder „nur-mal-so-Forderungen“ (je größer, je besser) die Diskussion bestimmen. Dennoch können Zahlen aus der heutigen Situation der Lebensräume und Arten und aus den wenigen wissenschaftlichen Erkenntnissen grob und generalisierend abgeleitet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass keine Art identische Ansprüche im Vergleich zu einer anderen Art hat, wenn auch Gruppierungen möglich sind.

a)   Vegetation, Urwaldzyklus

Die Mindestflächengröße aus der Sicht der Waldstrukturen, das Minimum-Strukturareal wird von verschiedenen Autoren zwischen 10 und 40 ha angegeben. Das Minimum-Strukturareal soll alle Waldentwicklungsphasen in einem stabilen Verhältnis enthalten. Bei allen Mosaik-Kartierungen realer Urwälder der Buchen- und Bergmischwälder sind alle Zyklusstadien des „Klimaxwaldes“ in mehrfacher Wiederholung ab einer Fläche von ca. 20 ha vorhanden.

Für das typische, standortbezogene Pflanzenartenspektrum dürfte die genannte Flächengröße bei vorliegender Waldtradition (alte Waldstandorte) ebenfalls ausreichen.

b)   Fauna

Für Tier- und seltenere Pflanzenarten wäre die Mindestflächengröße nach Populations-Minimalarealen abzuschätzen. Die entsprechenden Arealgrößen werden für die Megafauna A (Amphibien, Reptilien, Kleinsäuger, Kleinvögel) mit 20 – 100 ha und für die Megafauna B (Greifvögel, Großsäuger) mit 100 – >10.000 ha angegeben. Dabei spielt die Größenordnung einer genetisch selbsttragenden Population (gemeinhin 200 Individuen, je nach Art aber sehr unterschiedlich!) eine wichtige Rolle.

Ein Beispiel für die Megafauna B ist der Schreiadler: Bei einer „Reviergröße“ von 30 km² je Paar benötigen 100 Paare ein Areal von 3.000 km². Das entspricht 1/3 der Waldfläche von Rheinland-Pfalz. Dieses Beispiel zeigt, dass große Räume beanspruchende Tierarten nicht der Maßstab für Wildnisareale in Mitteleuropa sein können. Hier wäre das „Rosinenbrot-Prinzip“ (Schutz der Horstareale mit Einbettung im naturnahen Wirtschaftswald) zielführender.

Für Tierarten der Megafauna A wäre die Flächengröße der sog. Wildgebiete ausreichend. Für viele Tierarten der Megafauna B würden auch die sog. Wildnisgebiete bei weitem nicht ausreichen.

c)   Verteilung

Die Verteilung von Wildnisgebieten kann in Konkurrenz zu anderen Waldfunktionen und dem ökonomischen Prinzip folgend (optimales Verhältnis von „Aufwand“ und „Ertrag“; „Grenznutzen“ in der Sprache der Ökonomie) nicht nach dem Gießkannenprinzip erfolgen. Standortbedingungen und vorhandene Strukturen bzw. Artenvorkommen sind wichtiger für die Lage und die Verteilung geeigneter Wildnisgebiete. Pauschale, auf politische oder naturräumliche Einheiten bezogene Flächenvorgaben führen weniger schnell, nur unvollkommen oder gar nicht zum Ziel. Eine Analyse vorhandener Standorte, Strukturen und Artenvorkommen ist die Voraussetzung für effizienten Schutz, Sicherung und Entwicklung der biologischen Vielfalt. Von solchen „Naturschutzkerngebieten“ (Naturschutz-Leitlinie Hessen-Forst) ausgehend kann dann eine Stabilisierung der biologischen Vielfalt erfolgen.

d)   Mengen

Die Einstellung jeglicher Nutzung (Voraussetzung für Wildnis) steht im Konflikt mit und in Konkurrenz zu mehreren anderen Funktionen des Waldes im dicht besiedelten Mitteleuropa. Damit ist ein Bewertungs- und Abwägungsprozess zur Mengenermittlung erforderlich. Bewertungsprozesse werden am besten in der Sprache der Ökonomie wiedergegeben. Dabei spielen z. B. der „abnehmende Ertragszuwachs“ (je mehr Fläche vorhanden ist, desto geringer wird der Effekt zusätzlicher Flächen) oder die Größenordnung der „Opportunitätskosten“ (welcher Nutzen entfällt durch eine Maßnahme an anderer Stelle?) eine Rolle.

Der Teil der Biodiversität, der nur auf eine bestimmte Weise, wie flächenhaften Prozessschutz, zu erhalten und zu entwickeln ist, braucht diesen im erforderlichen Umfang.

Der übrige Teil kann ohne Großflächen-Prozessschutz mit den dafür geeigneten Instrumenten bedient werden.

Das Beispiel Japans, das den eigenen Wald in sehr großem Umfang schützt und durch seinen Holzbedarf erheblich zur Waldzerstörung in anderen Regionen der Erde beiträgt, ist keinesfalls zielführend. Diese „Opportunitätskosten“ aus japanischer Sicht übersteigen den positiven Effekt in Japan an anderen Orten wohl um das Vielfache.

In der Regel werden pauschale Flächenforderungen in ihren Auswirkungen auf die Ansprüche konkurrierender Waldfunktionen nicht „zu Ende gedacht“, wie ein Vergleich von segregativem und integrativem Naturschutz bei gleicher Forderungserfüllung zum Beispiel gegenüber der Holznutzung ergibt (hier nicht näher beschrieben). Kurzfristig (bis 10 Jahre) sind beide Varianten wirkungsgleich, langfristig fällt der erforderliche Nutzungsverzicht deutlich geringer aus.

Die entsprechende Holzmenge würde bei gleich bleibendem oder steigendem Holzverbrauch in Deutschland andere Regionen der Erde belasten. Bei exploitationsartigen Nutzungen dort wäre sogar mit der doppelten Belastung zu rechnen.

Der integrative Naturschutz erreicht mit dem „Rosinenbrotprinzip“ (Wildniselemente im naturnahen Wirtschaftswald eingebettet) mehr, weil er sich über die ganze Waldfläche erstreckt. Er ist, auf 10 Jahre „Aufbauzeitraum“ verteilt und mit anschließend vergleichsweise geringem jährlichem „Verlustausgleich“, ein mittelfristig realisierbares Ziel. Dabei wird unterstellt, dass die Verwendung des umweltfreundlichen Werkstoffs Holz auch weiterhin besonders erwünscht ist. Eine effiziente, möglichst eine „Kaskadennutzung“, an deren Ende auch die thermische Nutzung steht, muss die Umwelt- und  Naturschutzziele unterstützen.

Bestehende Schutzgebietsflächen mit Wildniswiederherstellung

Nimmt man den hessischen Staatswald als Beispiel, so erfüllt er die 2%-Wildnis-Forderung der „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ bereits. Allein die Staatswaldflächen des Nationalparks, der Kernzonen des Biosphärenreservats Rhön und der Naturschutzgebiete mit Prozessschutz entsprechen 2,3 % der Staatswaldfläche. Weitere formell geschützte Flächen und solche mit „Selbstbindung“ kommen hinzu. In den anderen Bundesländern dürften die Zahlen vergleichbar sein. Leider entsprechen die in der öffentlichen Diskussion genannten Zahlen nicht den Fakten, was allerdings ein Versäumnis der Forst- und Naturschutzverwaltungen ist.

Fazit

Die Forderung nach Wildnis im Wald kann in Mitteleuropa nur durch Wildniswiederherstellung erfüllt werden. Inhaltlich unterscheidet sich Wildniswiederherstellung nicht von anderen Naturschutzformen mit Prozessschutz. Es ist sinnvoll, „Wildniselemente“ in den naturnahen Wirtschaftswald einzubeziehen. Die Zahlen über vorhandene Waldflächen mit Prozessschutz bzw. ohne Nutzung sollten schnellstens aktualisiert werden, um den Erfüllungsgrad der „Vision“ der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt festzustellen und den Handlungsbedarf abzuklären.

Wie immer die wissenschaftliche und die öffentliche Diskussion über den Wald und die Biodiversitäts-Troika: „Schutz – Nutzung – Nutzen“ verläuft, der Wald wird in seiner Funktionenvielfalt und Bedeutung für den Menschen selbst in Deutschland immer noch massiv unterschätzt.

Abschließend Bemerkenswertes zur Buche

  • Die Buche ist die dritthäufigste Baumart in Deutschland und die zweithäufigste in Rheinland-Pfalz.
  • Ihr Anteil hat sich zwischen 1987 und 2002 (BWI²) in Deutschland (nur alte Bundesländer) um
    12,4 % und in Rheinland-Pfalz um 15,4 % erhöht, sie ist also keine gefährdete Baumart.
  • Die über 100-jährigen Buchenwälder haben im selben Zeitraum deutlich zugenommen: zwischen 7 und knapp 80 %, je nach Altersklasse (BWI²).
  • In den hessischen Naturwaldreservaten und ihren bewirtschafteten Vergleichsflächen wird die Artenzahl (ohne Mikrofauna) auf 5.000 bis 6.000 geschätzt (Senckenberg), erwartet worden waren 1.500 bis 2.500 Arten.
  • Dennoch ist die Eiche die deutlich „artenreichere“ Baumart und fast alle „Buchen-Tierarten“ kommen auch an Eiche und/oder anderen Laubbaumarten vor (Rheinland-Pfalz hat den höchsten Eichenanteil im Vergleich der Bundesländer).
  • Die Verbissbelastung eines Jahres bei den Laubbaumarten betrug (BWI²): bei Eiche 24 %, Buche 11 %, langlebigen Laubbaumarten 32 % und bei kurzlebigen Laubbaumarten 27 %; sie ist damit deutlich zu hoch und fördert die Dominanz der Buche schon in den jüngeren Altersklassen in unnatürlicher Weise; ohne Pflanzung und Schutz (Zaun, Einzelschutz) der Mischbaumarten des Buchenwaldes wäre deren Situation sehr bedenklich. Auch eine Frage der Biodiversität.

Volker Grundmann